Hansi Flicks Dilemma
Hansi Flick, die große Hoffnung des deutschen Fußballs, ist bereits wieder angezählt. Auch wenn Rudi Völler gerade das Gegenteil betonte. Was ein Bekenntnis zu einem Trainer oder Spieler bedeuten kann, haben wir ja gerade beim FC Bayern im letzten Jahr mehrfach mitbekommen. Es ist der Anfang vom Ende, wenn es erst einmal so weit ist, dass sich ein Vorstand genötigt fühlt, einem Trainer oder Spieler seinen Rückhalt auszusprechen.
Wie auch die Nationalspieler alle inzwischen erkannt haben, so einen Rückhalt – auch von den Fans – kann die Nationalmannschaft jetzt nur noch durch Siege bekommen.
Hansi Flick muss liefern. Und genau das ist sein Dilemma. Wie soll er liefern, wenn die Grundlage dazu schlicht und einfach fehlt.
Bastian Schweinsteiger forderte im Rahmen des Testspiels gegen Polen, dass nicht jeder, der in der Bundesliga zwei – oder dreimal gut spielt, sofort nominiert werde. Genau das scheint aber Flicks Vorhaben zu sein. Denn was soll er machen? Hansi Flick hat keine 11 Top-Spieler, nicht mal 3, 4 oder 5, die absolut gesetzt sind, weil sie die gesamte Saison überzeugt oder unzählige Tore geschossen haben…
Flick hat keine Spieler so wie früher, vor denen der Gegner schon Angst hatte, allein wenn sie auf dem Platz standen. Dass man vor dem deutschen Team keine Angst mehr haben muss, haben die anderen Teams längst kapiert. Auch diesen Bonus hat Flick nicht mehr.
Flick hat auch keine funktionierende Bayernachse mehr, um die herum er die restlichen Spieler aufbauen kann. Hansi Flick hat eine große Masse an mittelmäßigen Spielern, die alle mal besser und mal schlechter spielen. Er muss ausprobieren. Er hat keine andere Wahl, als sie alle mal zu nominieren.
Wenn ich Flicks Vorhaben richtig interpretiere, dann möchte er einen kompletten Neuanfang, und dafür so viele Spieler wie möglich testen. Und dafür lässt er schon mal Spieler wie Müller oder Süle zuhause. Die braucht er nicht zu testen. Für mich sieht es so aus, als würde Hansi Flick die für einen Neuaufbau viel zu wenigen Testspiele nutzen, um alle Möglichkeiten auszuloten. Um zu schauen, welcher Spieler auf welcher Position am besten passen könnte. Und vor allem, wer mit wem am besten harmoniert. Dass das zu Lasten der Ergebnisse geht, ist klar. Flick probiert eben noch aus.
Und wenn ich Flicks Aussagen auf einer der letzten Pressekonferenzen richtig verstanden habe, möchte er ab September dann eine feste Auswahl an Spielern haben. Und dann steht das nächste Problem an, ein Problem, das auch Thomas Tuchel gerade hat. Er muss daraus ein funktionierendes Team schaffen. Ein Team, das zusammen passt. Es werden keine absolut herausragenden Spieler dabei sein, die gibt es meiner Meinung nach in Deutschland gerade nicht. Aber sie müssen zusammen passen. Das ist das Wichtigste. Nur dann kann unsere Nationalmannschaft wieder zu einer Turniermannschaft werden, die sie früher immer war. Hansi Flick hat dafür, im Vergleich zu Thomas Tuchel, aber nur wenige Spiele, wenige gemeinsame Trainingstage Zeit. Zeit, in denen er oft genug durch die Bundesliga entmutigte Spieler wieder aufbauen musste – wofür er eigentlich gar keine Zeit hat. Zeit ist aber etwas, das Hansi Flick definitiv braucht.
Ihn jetzt schon wieder anzuzählen, verstehe ich überhaupt nicht. Von Flick wurde ein kompletter Umbruch, ein Neuaufbau der an Spielern und System gealterten Nationalmannschaft erwartet. Dass er dafür alles testet, was möglich ist, ist logisch. Und dafür sind Testspiele schließlich auch da. Nicht um nach dem Motto „Und am Ende gewinnt immer Deutschland“ einen Sieg nach dem anderen zu feiern. Flick hat die denkbar schlechtesten Voraussetzungen: Er hat keine Top-Spieler, die Achsen aus den Bundesligavereinen funktionieren aktuell nicht mehr, er hat den Großteil der Experten und auch der Fans nicht mehr hinter sich. Und er hat eine Heim-EM vor sich.
Man muss Hansi Flick diesen Weg des Testens und Ausprobierens zugestehen, inklusive aller Niederlagen. Denn der Weg, ab September daraus eine Mannschaft zu formen, wird noch schwer genug.