Boykott: ja oder nein?
Nun ist er also da. Der wohl umstrittenste internationale Wettbewerb der letzten Jahrzehnte. Obwohl durchaus auch andere ähnliche Großveranstaltungen Konfliktpotential hatten. Jedoch weitaus weniger offensichtlich. Doch nun geht es erstmal um diese, unmittelbar vor uns liegende Veranstaltung in Katar. Ein Land, das ganz andere kulturelle Hintergründe hat, andere Vorstellungen von Menschenrechten, andere Wertvorstellungen. Haben wir deswegen das Recht, dieses Land zu kritisieren? Eine provokative Frage, ich weiß. Und wahrscheinlich werdet ihr sie alle sofort mit „ja“ beantworten.
Aber wieso nehmen wir uns das Recht heraus, zu sagen, dass unsere westlichen Ansichten die allein gültigen sind? Weil Menschenrechte bei uns über allem stehen. Und das ist auch gut so. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt unser Grundgesetz. Aber es ist eben unseres. Fragt man die Katarer, würden die es vermutlich etwas anders sehen. Würden sie manche Dinge, die für uns selbstverständlich sind, die wir gar nicht anders kennen, als unrichtig hinstellen.
Versteht mich nicht falsch, natürlich finde ich es schlimm, wenn Menschenrechte, wie wir sie kennen, mit Füßen getreten werden, wenn Menschen ausgebeutet werden, sogar sterben. Aber abgesehen davon, dass das auch in anderen bisherigen Gastgeberländern zum Teil der Fall war, es sind Werte, die wir für richtig halten, weil sie jemand – zum Glück für uns – vor vielen Jahren als unsere Werte festgelegt hat. Wir sind damit aufgewachsen. Für manch andere unserer heutigen Rechte und Werte wurde Jahrzehnte, teilweise gar Jahrhunderte lang gekämpft. In unserem Land.
Wir würden es sicher nicht gut finden, wenn jetzt jemand aus anderen Ländern käme, und uns seine Werte überstülpen wollen würde. Auch wenn derjenige aus seiner Sicht Recht hätte. Selbst wenn die Ansicht oder die Werte desjenigen tatsächlich besser wären als unsere jahrelang gekannten.
Was ich damit sagen möchte ist, dass ein Boykott des Tuniers in Katar, wie ihn viele Fußballfans vorhaben, zwar aus moralisch ehrbaren Gründen geschieht, meiner Meinung nach aber ein zu einfacher Weg ist.
Was wird es bringen? Angenommen, nur theoretisch, das gesamte Turnier hätte in keinem einzigen Land auch nur einen einzigen Fernsehzuschauer. Oder zumindest, bleiben wir realistisch, deutlich weniger. Das würde zu allererst den übertragenden Medien schaden. Erneute Preissteigerungen bei den Privaten, weniger Übertragungen im Free-TV, Entlassungen, was auch immer das langfristig nach sich ziehen würde, ich weiß es nicht.
Vielleicht, nur ganz vielleicht würde die Fifa sich irgendwann die Vergabe genauer überlegen. Mal angenommen, das würde passieren. Was hätten wir im Grunde erreicht? Dass der Sport manchen Ländern keine Plattform bietet? Werbung kann man auch anderweitig bekommen. Dass Fußball weiterhin nur in den Ländern einen hohen Stellenwert hat, die wir als „traditionelle“ Fußballländer ansehen? Anstatt die schönste Nebensache der Welt eben in diese ganze Welt zu bringen. Es ist eine WELTmeisterschaft, also sollte auch jedes Land die Chance dazu bekommen. Wir würden weiter erreichen, dass die Fans in Katar (ja, es sind weniger als bei uns, aber sind sie deshalb weniger wert?) nie die Möglichkeit bekommen, ihren Sport bei einem großen Turnier zu einem für sie passenden Jahreszeitpunkt in ihren Ländern zu erleben.
Vielleicht wird es, was zu hoffen ist, im Vorfeld, beim Stadionbau, keine zig Toten mehr geben. Ich denke, das haben die Verantwortlichen aber bereits gelernt, so etwas wird in Zukunft hoffentlich und wahrscheinlich nicht mehr passieren.
Was wir definitiv aber nicht erreichen mit einem Boykott ist, dass sich die Situation für die Menschen dort verbessert. Denn ein Boykott heißt in diesem Falle wegsehen. Sollte man nicht eher ganz genau hinsehen, wäre das nicht der bessere Weg, manch einen zum Umdenken zu bewegen? Wenn sich die Situation, die Menschenrechte in Katar ändern sollen, wenn wir wollen, dass sie sich so verändern, wie wir das für richtig halten, nach unseren Werten, dann müssen wir hinsehen. Dann müssen wir, anstatt nur unsere Werte dem Land überstülpen zu wollen, zunächst einmal das Land und seine Kultur, seine Werte kennen- und verstehen lernen. Warum sind die Werte dort anders als bei uns, warum haben manche Menschen dort weniger Rechte als bei uns. Welchen kulturellen Hintergrund und Grund hat das. Nur auf diese Weise können wir – im gemeinsamen Dialog mit den Menschen dort – etwas verändern.
Ein gutes Beispiel in dieser Hinsicht ist für mich das Thema Kinderarbeit in Lateinamerika. Vor 10, 15 Jahren hätte in Deutschland jeder gesagt, „Kinderarbeit – auf keinen Fall!!“ Mittlerweile hat in dieser Frage ein großes Umdenken stattgefunden. Auch Organisationen mit dem Fairen Handel-Gedanken haben gelernt, dass unsere Werte nicht auf die Familien.in Lateinamerika zutreffen. Dass Kinder dort gerne ihre Familien unterstützen, dass das dort in manchen Gebieten eben die Normalität ist. Es haben beide Seiten umgedacht. Nun heißt es „Kinderarbeit – ja. Aber kindgerecht.“
Es geht nur gemeinsam, mit Verstehen, mit Annäherung, mit Dialog. Und es geht nicht von heute auf morgen. „Es ist nichts passiert, es hat sich nichts geändert“, lese ich derzeit häufig. Natürlich nicht. Denn solche Veränderungen brauchen Zeit. Aber wir haben immer noch die Chance, etwas zu verbessern. Lassen wir uns diese Chance, etwas mehr über Katar, das Land und die Menschen zu erfahren, nicht entgehen. Nur so können wir gemeinsam etwas verändern.